Mehrere Milliarden Euro ließen sich einsparen, wenn man die Stromnetze nicht aus-, sondern umbaut. Davon ist Wirtschaftswissenschaftler Jarass überzeugt. Im Interview mit tagesschau.de erklärt er, was aus seiner Sicht bei der Energiewende falsch läuft und warum man bei den Erneuerbaren eher bremsen sollte.
tagesschau.de: Der stockende Netzausbau gilt als das größte Problem der Energiewende. Was stockt da und warum?
Lorenz Jarass: Ich sehe das nicht so, dass der Netzausbau die Achillesferse der Energiewende ist. Das lässt sich am jetzt vorgelegten Netzentwicklungsplan nachvollziehen. Der angestrebte Netzausbau ist nämlich überdimensioniert. So hat man sich vorgenommen, wirklich jede erzeugte Kilowattstunde gesichert ins Netz einspeisen zu können. Es ist aber unsinnig, einmalige Windspitzen in Norddeutschland nach Süddeutschland übertragen zu wollen. Im Extremfall würden Sie für diese einmalige Windspitze eine extra Leitung bauen müssen.
Darüber hinaus will man nicht nur die Starkwindeinspeisungen gesichert abtransportieren, sondern zusätzlich und parallel dazu auch noch Strom von einer Vielzahl von Kohlekraftwerken. Das widerspricht der Idee der Energiewende. Wenn ich mehr Strom aus umweltfreundlichen Erneuerbaren Energien habe, dann kann ich doch die umweltbelastenden Kohlekraftwerke herunterfahren. Aber das geschieht nicht. Die Kohlekraftwerksbetreiber haben einen Rechtsanspruch darauf, auch bei Starkwind einspeisen zu können.
Umbauen statt Ausbauen
tagesschau.de: Was schlussfolgern Sie daraus?
Jarass: Ich bin davon überzeugt, dass man das vorhandene Netz geeignet umbauen kann und dass man damit auskommt. Wir brauchen ein Netz, das die massiv ansteigenden Erneuerbaren Energien geeignet in der Bundesrepublik verteilt. Ein Netzausbau sollte also selektiv erfolgen und Verbraucher nicht überdimensional belasten.
tagesschau.de: Welche Technologie braucht es für einen Umbau?
Jarass: Man könnte zum Beispiel ein Leiterseiltemperaturmonitoring einführen. Dabei misst man kontinuierlich die Temperatur der Hochspannungsleitung mit einem Handy. Solche Leitungen werden umso wärmer, je mehr Strom durchfließt. Jetzt schreibt die entsprechende DIN vor, dass die Leitung unter keinen Umständen wärmer als 80 Grad wird. Das bedingt eine bestimmte Strommenge bei beispielsweise 35 Grad im Schatten und Windstille. Unberücksichtigt bleibt, dass Sie bei kühleren Außentemperaturen sehr viel mehr Strom durchleiten könnten, ohne dass der Maximalwert erreicht wird. Dafür ist es aber notwendig, dass die Temperatur der Leiterseile überwacht wird und nicht nur hochgerechnet wird.
Massive Einsparungen sind möglich
tagesschau.de: Haben Sie ermitteln können, wie hoch mögliche Einsparungen wären, wenn man um- und nicht ausbaut?
Jarass: Ich gehe davon aus, dass es dramatisch billiger wird. Wir können nicht untersuchen, um wieviel billiger der Einzelfall wird, aber man könnte eine Vielzahl von Leitungen einsparen. Von den jetzt genannten 20 Milliarden Euro würden wir deshalb viele Milliarden einsparen: mindestens fünf, wahrscheinlich zehn.
tagesschau.de: Was halten Sie von der Idee, den Netzausbau zur Not zu verstaatlichen oder eine einheitliche Netzgesellschaft zu gründen?
Jarass: Die Hürden für eine Verstaatlichung sind sehr hoch. Sie müssten die jetzigen Netzbesitzer ja enteignen. Das halte ich für undenkbar.
Rainer Brüderle telefoniert im Bundestag (Foto: dpa) Großansicht des Bildes Brüderle als Wirtschaftsminister lehnte eine Netzgesellschaft ab. Die Forderung nach einer Netzgesellschaft ist vernünftig, kommt aber zu spät. Der Zeitpunkt wäre 2010 günstig gewesen, als E.ON auf Druck der EU-Kommission sein Hochspannungsnetz verkauft hat. Aber das Wirtschaftsministerium hat sich aus ordnungspolitischen Überlegungen verweigert. Denn der Staat in Form einer Institution wie der KfW-Bank hätte sich mit einer Minderheitsbeteiligung einschalten müssen. Das wollte man nicht, weil es sich quasi um eine Teilverstaatlichung gehandelt hätte, die man schon aus Prinzip ablehnt. Also ist dieser Zug abgefahren – leider.
Widerstand der Kraftwerksbetreiber formiert sich
tagesschau.de: Könnten die viel beschriebenen Probleme mit dem Netzausbau auch ein vorgeschobenes Argument sein, um die Energiewende weiter hinauszuzögern?
Jarass: Die Energiewende ist massiv beschleunigt worden. So gibt es einen exorbitanten Ausbau der Erneuerbaren Energien. Aber gleichzeitig formieren sich genau dagegen massive Widerstände. Zum einen hoffen die Kernkraftwerksbetreiber doch noch darauf, dass sie ihre Kraftwerke noch mal anfahren können. Zum anderen müssen die Kohlekraftwerksbetreiber befürchten, ihre Leistung entschädigungslos herunter fahren zu müssen, was meiner Meinung nach bitter nötig wäre.
Wenn wir allerdings die Erneuerbaren Energien in diesem Tempo weiter ausbauen, dann haben wir insgesamt zu viel Strom. Und es nützt gar nichts, diesen Strom von der Nordsee nach Bayern transportieren zu wollen oder zu können. Er wird weder an der Nordsee noch in Bayern gebraucht. So bauen die Rheinland-Pfälzer oder die Hessen schon seit Jahren ihre eigenen Windparks und könnten auf die Offshore-Windparks und die enormen damit verbundenen Kosten gut verzichten. Die norddeutschen Ministerpräsidenten fürchten deshalb, auf ihren Investitionen sitzen zu bleiben und auf ihre Wirtschaftsentwicklung verzichten zu müssen, beispielsweise auf die Gewerbesteuer.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de