Im Teufelskreis der Finanzmärkte, Handelsblatt v. 7.11.2006
Auf der Suche nach immer höheren Renditen verleiten Pensionsfonds börsennotierte Unternehmen zu immer kurzsichtigeren Entscheidungen
Von Dirk Heilmann, Handelsblatt, Leiter des London-Büros
Wie beschreibt man einen Teufelskreis? Fangen wir mit einer Geschichte an, wie sie jeder kennt. Der Geschichte von Heinz etwa, 55 Jahre alt, bis vor kurzem im mittleren Management einer großen Bank in Frankfurt. Er hat bei der letzten Stellenabbaurunde das Angebot angenommen, freiwillig mit einer ordentlichen Abfindung in Vorruhestand zu gehen. Die Geschäfte der Bank liefen gut, doch der Vorstandschef beharrt darauf, 25 Prozent Eigenkapitalrendite vor Steuern machen zu müssen. Sonst sei die Bank international nicht wettbewerbsfähig, sagt er. Natürlich hat Heinz gut vorgesorgt, mit Lebensversicherung und Anteilen an Aktienfonds. Er muss im Ruhestand keine Abstriche machen und hat endlich Zeit für die Familie.
Auch Bob, 58, der gerade nach fast vierzig Jahren seinen Job am Fließband bei Ford in den USA verloren hat, sieht mit Zuversicht in die Zukunft. Er geht mit einer hohen Abfindung, und aus der Pensionskasse des Konzerns wird er eine auskömmliche Rente beziehen. Heinz und Bob haben Glück im Unglück. Sie gehören zu einer Armee von Arbeitern und Angestellten, die in den westlichen Industriestaaten in diesen Jahren in Rente oder Vorruhestand gehen, doch sie gehen gut versorgt. Erwirtschaftet wird ihre Altersversorgung auf den Finanzmärkten. Und dort müssen sich die Pensionskassen, Fondsgesellschaften, Vermögensverwalter und Lebensversicherer immer mehr ins Zeug legen.
Die Verwalter der Investmentfonds werden auch in Kontinentaleuropa immer aktiver. Sie fordern auf Hauptversammlungen Shareholder- Value ein und machen sich zum Fürsprecher von Millionen Kleinanlegern. Sie haben dazu beigetragen, dass es in Deutschland einen Corporate-Governance-Kodex gibt, der Aktiengesellschaften zu Transparenz verpflichtet und den Aktionären mehr Mitsprache sichert. Mit ihren großen Aktienpaketen verbünden sie sich von Fall zu Fall mit aggressiven Anlegern wie Hedge-Fonds und so genannten Shareholder-Aktivisten. Wenn die aggressiven Anleger, oft mit kleinen Minderheitsbeteiligungen, öffentlich Vorstände attackieren, deren Ablösung oder eine ganz neue Strategie fordern, dann stimmen viele traditionelle Großanleger auf Hauptversammlungen mit ihnen.
So war es bei der Deutschen Börse, der eine Gruppe von Hedge-Fonds mit Hilfe traditioneller Aktienfonds die Übernahme der Londoner Börse austrieb, so war es bei dem niederländischen Fachinformationskonzern VNU, der vom Käufer zum Kaufobjekt wurde. Solche Kämpfe enden meistens damit, dass viel Geld aus dem Unternehmen an die Aktionäre fließt. Den Fonds hilft das, die Renditen zu steigern und im Kampf um die Milliarden der Anleger zu punkten.
Pensionsfonds sind hingegen die stillen Größen in den Kulissen der Kapitalmärkte. Sie haben ungeheure Summen anzulegen. Allein die 300 größten Pensionsfonds der Welt haben an die zehn Billionen Dollar in ihren Kassen. Schon mit geringfügigen Verschiebungen in ihren Anlageentscheidungen erschüttern sie die Börse und verhelfen neuen Anlageformen zum Durchbruch. Wenn zum Beispiel, wie jüngst geschehen, die größte britische Pensionskasse Hermes, Verwalter der Alterssicherung der Angestellten von BT, den Anteil alternativer Anlageformen in ihrem Portefeuille von sieben auf 15 Prozent erhöht, dann horchen die Märkte auf. Von diesem weltweit sichtbaren Trend zu alternativen Anlageformen profitieren vor allem die relativ jungen Anlageklassen Hedge-Fonds und Private Equity. Pensionsfonds sind heute die größten Geldgeber der europäischen Private-Equity-Fonds: Sie vervierfachten 2005 ihre Zusagen auf 17 Milliarden Euro. In Hedge-Fonds wird nach einer Schätzung der Beratungsfirma Mercer bis Jahresende jede achte britische und fast jede fünfte kontinentaleuropäische Pensionskasse investiert haben. Hedge-Fonds und Private-Equity-Fonds sind dank dieser Zuflüsse innerhalb weniger Jahre zu mächtigen neuen Spielern an den internationalen Kapitalmärkten geworden.
Mit geschätzten 1,5 Billionen Dollar können die Hedge-Fonds spekulieren; Private-Equity-Fonds haben seit Anfang 2003 laut Thomson Financial mehr als 700 Milliarden Dollar eingesammelt. Doch das zeigt nur einen Bruchteil ihrer Macht: Sie hebeln ihr Kapital, indem sie bei Übernahmen oder Aktienkäufen ein Vielfaches des eigenen Einsatzes an Fremdkapital aufnehmen. Die Kredite dafür drängen ihnen Banken derzeit geradezu auf. Das können sie tun, weil sie selber eine enorme Nachfrage nach Anleihen und Kreditderivaten zu befriedigen haben – unter anderem wiederum von Hedge-Fonds. Der Aufstieg von Hedge-Fonds und Private-Equity-Firmen ist also kein Zufall, er beruht unmittelbar auf Anlageentscheidungen an sich erzkonservativer Organisationen wie Pensionskassen und Versicherungsfirmen. Sie wollen höhere Renditen als an der Börse und zugleich einen Ausgleich zu deren Schwankungen. Das hat bisher oft funktioniert, wird es aber nicht ewig. Denn je mehr Kapital in diese alternativen Anlagen fließt, desto schwerer werden es die Fonds haben, ihre Renditeversprechen einzuhalten. Dieses Risiko nehmen die Investoren in Kauf. Es bleibt ihnen keine Wahl: Die herkömmlichen Renditen reichen nicht, um die wachsenden Ansprüche an die Altersvorsorge zu befriedigen. Die demographische Entwicklung in den westlichen Industriestaaten setzt die stillen Verwalter der Renten-Billionen unter Druck. Die Zahl der Leistungsempfänger steigt, und die Rentner leben länger. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Einzahler. Immer mehr von Unternehmen gegründete Pensionsfonds schließen daher ihre Kassen für neue Mitglieder. Sie kämpfen nur noch darum, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Selbst das gelingt ihnen kaum, ohne dass die Firmen Geld zuschießen – das ihnen dann für Investitionen fehlt.
Was bedeutet all das für die Unternehmen? Die Kapitalmärkte setzen ihnen immer ehrgeizigere Renditeziele. Nur selten sind sie Gegenstand öffentlicher Diskussion wie bei der Deutschen Bank, die sich bei der Vorgabe von 25 Prozent Eigenkapitalrendite vor Steuern auf internationale Rentabilitätsvergleiche beruft. Die Renditeziele sind nicht mehr länger nur interne Zielmarken. Geschäftsbereiche, die sie regelmäßig verfehlen, stehen immer schneller zur Disposition. So trennte sich Siemens von der Handy-Tochter, und RWE stellte die Wassersparte zum Verkauf. Doch wo ist die Rendite-Obergrenze erreicht, wann kann ein Unternehmen mit der erreichten Marge zufrieden sein, wann darf es aufhören, die Kosten zu drücken? Es gibt keine Naturgesetze, die bestimmen, ob eine Rendite von 15, 20 oder 25 Prozent die richtige ist. Es ist der Wettbewerb um die Gunst der Investoren, der diese Aufwärtsspirale treibt.
Wer dauerhaft weniger Rendite als die Konkurrenten einfährt, wird an der Börse niedriger bewertet und läuft Gefahr, zum Übernahmeziel zu werden. Wer Top-Renditen einfährt, wird sich eher als Käufer betätigen können. Also geht der Wettlauf um immer höhere Renditen weiter. Unternehmen, die in die Hand von Private-Equity-Fonds geraten, müssen ihre Renditen schon deshalb hochtreiben, um die höheren Zinslasten zu finanzieren. Gleichzeitig drängen Investoren die Unternehmen, erwirtschaftetes Geld nicht zu investieren, sondern lieber so viel wie irgend möglich direkt an sie auszuschütten. Sie kritisieren sogar Unternehmen, die sie für zu gering verschuldet halten, und fordern sie auf, Fremdkapital aufzunehmen, um mehr an die Aktionäre abführen zu können. Das führt zu Absurditäten wie bei Vodafone. Der mit hohem Cash-Flow gesegnete Konzern legte Aktionären Ziele vor, wie er die Verschuldung von Jahr zu Jahr erhöhen will – ohne operative Begründung.
Zugleich schüttete er im Jahr darauf zweistellige Milliarden-Einnahmen aus von Anlegern erzwungenen Beteiligungsverkäufen an selbige aus. Wer heute noch Reserven für schlechte Zeiten anlegt oder Schulden nur aufnimmt, wenn es sein muss, ist aus Sicht der institutionellen Anleger ein hoffnungslos altmodischer Wertvernichter.
Die volkswirtschaftliche Folge dieses Wettlaufs ist, dass viele Aktiengesellschaften heute Investitionen regelrecht gegen ihre Aktionäre durchsetzen müssen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Rohstoffbranche, der die rasche Industrialisierung Asiens einen riesigen Boom beschert hat. Die Konzerne fahren Rekordgewinne ein und investieren auch Rekordsummen. Doch vielen institutionellen Anlegern sind die Investitionen zu hoch. Sie fordern die Vorstände auf, das verdiente Geld lieber auszuschütten.
Der Druck auf hohe Renditen bremst so nicht nur volkswirtschaftlich notwendige Investitionen und lähmt unternehmerisches Denken, er zwingt Unternehmen auch, alle Geschäftsfelder permanent in Frage zu stellen. Wenn man nicht Nummer eins oder zwei in einem Markt sei, postulierte der viel bewunderte Jack Welch, gelte: „Fix it, close it, or sell it.“ Weltweit beten Manager das Motto des Ex-Chefs von GE nach.
Aus dieser Logik heraus wird der Vorstand einer Aktiengesellschaft zum Portfolio-Manager, er schlüpft in die Rolle eines Finanzinvestors mit einem Kranz jederzeit veräußerbarer Beteiligungen, den er für die Geldgeber verwaltet. Er wird auch eher Wachstum durch Übernahmen anstreben als durch unternehmerische Investitionen in neue Geschäftsfelder. Ein Unternehmen, das regelmäßig an seiner Effizienz arbeitet, wird auch regelmäßig Menschen wie Bob und Heinz wie unnötigen Ballast abwerfen. Der Teufelskreis schließt sich hier: Am Ende haben sich Bob und Heinz im Grunde selber wegrationalisiert, indem sie hohe Renditen von Kapitalverwaltern verlangt haben und diese den Druck an Unternehmen weitergegeben haben. Mit anderen Worten: Die Renditeforderungen sind keine turbokapitalistische Erfindung „der Finanzmärkte“, sie sind aus wirtschaftlichen Zusammenhängen heraus erklärbar. Diese Zusammenhänge übersehen wir aber, so wie wir uns über billige Fernsehgeräte aus Fernost freuen und den Tod der heimischen Hersteller beklagen.
In den angelsächsischen Ländern ist der Mechanismus des Teufelskreises schon länger zu besichtigen, für Deutschland ist er noch neu. Die klare Renditeorientierung und der Trend zur Konzentration auf das Kerngeschäft, die Idee des Shareholder-Values, haben sich hier erst in jüngerer Zeit endgültig durchgesetzt. Sie haben die Unternehmenslandschaft durchaus positiv verändert: Die Vorstandschefs werden besser kontrolliert, die Unternehmen sind fitter aus der jüngsten Flaute gekommen. Sie haben den Renditerückstand auf angelsächsische Konkurrenten verkürzt, ihre Börsenbewertungen gesteigert und können sich daher jetzt oft als Konsolidierer ihrer Branchen betätigen. Sind sie damit am Ziel? Nein. Der von der Demographie getriebene Renditedruck wird nicht nachlassen, weil sich die demographische Schieflage in den Industriestaaten nicht so bald bessern wird.
Kann es uns gelingen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen? Ein erster Schritt wäre die Einsicht, dass die Forderungen der Finanzmärkte debattierbar sind. Deutsche Manager haben gelernt, mehr auf die institutionellen Anleger zu hören, das heißt aber nicht, dass sie sich ihre Strategie diktieren lassen sollten. Wir brauchen eine breite Definition von Nachhaltigkeit. Es geht nicht nur darum, die Umwelt zu schützen, sondern auch darum, die wirtschaftlichen Grundlagen für künftiges Wachstum zu sichern. Wenn wir uns aber kollektiv aus jeder wirtschaftlichen Tätigkeit verabschieden, die nicht eine bestimmte Mindestrendite erbringt, dann geben wir den globalen Wettbewerb kampflos auf.
Was wir brauchen, sind Vorstände und Aufsichtsräte, die Unternehmen so rüsten, dass sie auf den Weltmärkten bestehen können und aus dieser Position der Stärke heraus langfristige Strategien gegen kurzfristige Gewinnoptimierung durchsetzen. Auf der anderen Seite müssen auch institutionelle Investoren eine nachhaltige Investitionsstrategie verfolgen, statt aggressive Opportunisten mit Kapital auszustatten und die Hände in Unschuld zu waschen.