Sehr geehrter Herr Jarass,
ich nehms wörtlich und schick Ihnen einen Kommentar, wie Sie auf Ihrer
Webseite wünschen:
1) Der Artikel paßt leider nicht zu dem guten Niveau Ihrer Seite.
Themenvielfalt gerne, aber in seiner Kürze ist er so grob geschnitzt, daß es
nicht sachlich wirkt.
L.J.: Mein student. Mitarbeiter hat sich schon aufgeregt, dass der Beitrag jedenfalls nichts auf dem Deckblatt zu suchen hat. Nehme ich runter.
2) Es wird nicht mal klar, wie ernst Sie ihn meinen.
L.J.: Guter Punkt. Ich sehe ein problem meiner ausl. Studenten und will da zu Lösungen beitragen.
Wie Sie zitieren, gibt
es anderswo im Internet schon ausführlichere Artiekl, die auch
unterhaltsamer sind.
3) Schreiben hat den einzigen Zweck, *gelesen* zu werden. Haben Sie ihre
Schreibung mal rückübersetzt?
L.J.: Guter Punkt: Bisher habe ich nur vom Sprechen zum Schreiben gesehen, rückwärts muss das System natürlich auch funktionieren.
Sie werfen z.B. lange und kurze Silben
durcheinander: Alles ohne Verdoppelung hinten ist automatisch lang
gesprochen – aber nur, wenn’s betont ist.
L.J.: Verstehe ich nicht, könnten Sie da bitte mal einige Beispiele bringen
Also nur, wenn Kinder und
Ausländer die Wörter schon KENNEN, können sie sie aussprechen.
L.J.: Das sehe ich nicht so. Grundprinzip sollte sein, dass jeder mit Basis-Deutschkenntnisse aus der Schrift automatisch voelesen kann und umgekehrt das korrekt gesprochenen Wort schreiben kann.
Außerdem:
Feld/fehlt -> felt oder wird Feld zu felld?
L.J.: er fällt, das fäld, er feld
Straße -> strase wie Vase -> wase Ist das s jetzt scharf oder nicht?
L.J.: eindeutig beides nicht
Warum eigentlich nicht schtrase?
L.J.: Das stimmt, so man müsste ´schtrase´ schreiben
Gerade das st/sp verwundert Ausländer, und
wenn Sie statt Hamburgerisch schon auf die „Hochsprache“ abfahren… in
der man Vokal mit f spricht…?
Fremdsprachler bestätigen überwiegend, wie logisch das jetzige System wäre.
L.J.: Das halte ich für einen Scherz. Die einzige Systematik der deutschen Sprache besteht wie im deutschen Steuerrecht in ihrer Unsystematik, gekennzeichnet durch eine Unzahl von Ausnahmen und Rückausnahmen von der Grundregel.
Scheint als hätten Sie wenig Kontakt mit Deutschlernern.
L.J.: Diese Deutschlerner haben mir ihre Deutschlernbücher gezeigt. Ein Graus, geschrieben und verwaltet von Leuten, die den Unterschied zwischen einem Werkzeug und Lyrik nicht akzeptieren wollen.
Diese Deutschlehrbücher sind noch mieser als die deutschen Mathematiklehrbücher, und die zeichen sich schon durch eine systematische Unsystemaik aus, wo der gleiche Sachzusammenhang auf einer Seite durch drei verschiedene Begriffe gekennzeichnet wird.
Wir sollten uns alle zusammentun und Ihre Regeln erstmal auf die Sprachen
ENGLISCH und FRANZÖSISCH anwenden! Die sind immerhin viel weiter verbreitet.
Englisch hat es geschafft, durch die fehlende Kodifizierung der Sprache und die deshalb möglichen automatischen Anpassungen eine weltweit gesprochene Sprache zu bleiben und mittlerweile Latein als franca lingua abzulösen, Deutsch und Französisch sind strikt kodifiziert (icvh wohne ja in der Dudenstrasse, in Wiesbaden Sonnenberg ist der Herr Duden verarmt und verbittert 1913? gestorben) und auch deshalb mitlerweile von Ausländern unlernbar.
Danach können wir gern wieder übers Deutsche reden.
nein, wir lösen unsere probleme, und die anderen lösen deren Probleme.
Mit Grüßen
Mit herzlichen Grüssen in das schöne Varna (ich habe auch 2 bulgarische Studenten neben div. aus Rumänien)
Ihr L. JARASS
Sehr geehrter Herr Jarass,
pardon, daß ich erst jetzt wieder zum Antworten komme. Gerne schicke ich Ihnen noch ein paar Erläuterungen, wobei nach meinem Gefühl uns das Thema immer scharf an den Rand des Absurd-Lustigen bringt, auch ohne daß ich Ihnen auf den Schlips treten will. Und am Ende finde ich gerade das Verbinden von Spaß und Ernst sogar sehr reizvoll… 😉
Die Diskussionen Ende der 90er um die „offizielle“ Reform haben mich etwas müde gemacht haben, mich in Details und Einzelwörtern zu verlieren. Für mich kommt’s sehr auf Grundsätzliches an, ich starte aber mit ein paar Einzelbeispielen:
(3) Doppelfokal fällt weg: moos à mos
…und an, man, das, was, und etc läuft Gefahr, plötzlich lang gesprochen zu werden. vgl ba(h)n-bann, wa(h)n-wann, den-denn
ann, mann, dass, wass, unnd wäre eindeutiger.
Das ist der Punkt, wo man vorher die Aussprache kennen muß. Ebenso bei:
„(4) Wie bisher nach ainem kurze und betonten fokal Ferdoppelung…“
(5.3) dt à t: verwandt à verwant, stadt à statt (regel 4)
Warum nicht ferwannt? Denn sonst spricht man verwahnt.
sistem – gesprochen sieeestem? ssisstem? (wie engl.)
Einerseits nehmen Sie Dehnungszeichen weg, andererseits gleichzeitig Verstärkungen, z.B. t
Witz à Wiz Das könnte dann also auch Wiez gesprochen werden
andererseits Glatze à Glazze (ich nehme strikt Beispiele aus Ihrer Wortliste)
Rausgezoomt:
Ihr System ist leider in sich nicht schlüssig: Hauptsächlich krankt es daran, daß zwar Doppelvokale wegfallen, Doppelkonsonanten aber nicht systematisch eingeführt werden.
Ihr System ist etwa der Gegenentwurf zum Niederländischen: Sie machen Kürzen klar durch Doppelkonsonanten, die NL machen die Längen klar: Offene Silben und Doppelvokale sind lang, alles andere eben nicht.
(Ich kann das System begreifen – Ik kan dat systeem begrijpen). Wäre zu klären, welcher Ansatz besser ist.
Obwohl die Niederländer das pragmatisch durchgezogen haben, fallen beim jährlichen Diktat die Einheimischen reihenweise durch (über NL-Lerner weiß ich’s nicht).
Das Grundsätzliche ist meiner Ansicht nach:
Eine Sprache lebt, sie wird sich nie in ein durchweg logisches System pressen lassen.
*** Schon was Hochsprache ist, wird unterschiedlich definiert:
Straße -> strase wie Vase -> wase Ist das s jetzt scharf oder nicht?
L.J.: eindeutig beides nicht
Beides nicht scharf? Straße spricht man scharf, genau deswegen das ß. So frei erfunden ist das nicht! Aus meiner Zeit in Mainz weiß ich natürlich, daß das Hessisch-Pälzische das anders macht…
Auch Vokal mit F zu sprechen…
Nebenbei spreche ich seit altersher Süstem und Oxüd, ohne daß es wirkliche Dialektwörter wären, und in das Y können wir wenigstens beide das Gewünschte reininterpretieren.
OK, nehmen wir an, alle Sprecher würden sich an eine starre, genormte Aussprache halten ….
*** Es gibt z.Zt. folgende 2 Prinzipien der Rechtschreibung:
„Schreiben nach Aussprache“ und „Schreiben nach Wortzusammengehörigkeit“
Satz und setzen lang und länger
Beide haben ihre Berechtigung, und beide wirken permanent gegeneinander. Wir können uns gern strikt für eines entscheiden, müssen es dann aber auch vertreten können.
à Jede Menge ä’s einführen? Ainä wält aus lautär ä’s wir(r)t auch nicht ainfachär.
à Alle ä’s durch e ersetzen? Aber dann haben wir ZWEI verschiedene Lautwerte für DENSELBEN Buchstaben e (noch öfter als jetzt): ein langes, klares eeeeh und eben ääh. Da sind wir wieder da, wo man zum Lesen eigtl die Wörter erst kennen muß.
Ohnehin haben z.B. Osteuropäer, Chinesen (u.a.?) Schwierigkeiten, den Unterschied zwischen langen und kurzen Vokalen überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn auszusprechen. Fragen Sie ruhig die Bulgaren in Ihren Kursen.
(Eigentlich hat das E sogar 3 Lautwerte: das unbetonte fast-ö. Eine Sache, für die die Bulgaren ein Extra-Zeichen haben.)
Aber die 2 Prinzipien betreffen natürlich nicht nur das e, sondern alle Lautänderungen bei der Wortbildung.
Feld/fehlt -> felt oder wird Feld zu felld?
L.J.: er fällt, das fäld, er feld
(Warum das faeld mit „ae“? Warum er feld mit d?)
Die Endkonsonanten b, d werden hart ausgesprochen, haben aber ihren Sinn: Schon ein und dasselbe Wort in Ein- und Mehrzahl verschieden zu schreiben – das felt, die felder – wäre ja auch nicht einfacher.
Kleiner Spaß am Rande: „Das hemt hemmt mich.“
Meinetwegen „Das hemd hemmt mich“
Oder konsequent „Dass hemmt hemmt mich, die hemmden da aber nich“
(eigtl müßte man das ch jetzt auch konsequent verdoppeln: michch, „Wass mischschst du inn der nische?“, deswegen plädiere ich eher für den niederländischen Vokalschwerpunkt)
Damit sind wir da, warum man Häuser mit ä schreibt:
*** Die Schreibung muß sich immer der leichten Lesbarkeit unterordnen. (nicht nur „auch“ lesbar sein). Ich persönlich bin froh, daß ich Häute und heute sofort unterscheiden kann und nicht erst hoite übersetzen muß. Schlimm genug, daß 2 Bedeutungen den gleichen Klang haben, dann kann man’s wenigstens im Schriftbild klarmachen. Gerade beim Fremdsprachenlernen stütze ich mich lieber auf das Geschriebene als auf das Genuschel.
Wenn das Schreiben als toller Prozeß wichtiger wäre, dann könnten wir gleich wie im Arabischen die Vokale weglassen: Alle ei/ai und i/ie und eu/oi –Probleme wären sofort gelöst, außerdem gehts viel schneller.
Und während ich jetzt noch sage, daß Ihr Artikel zur Besteuerung lesenswert ist – müßte ich dann fragen: Hm, schwer lesbar, aber hat das Schreiben wenigstens Spaß gemacht?
*** Hauptsächlich müssen wir selbst mit unserer eigenen Sprache klarkommen – ob fremde Deutschlerner damit klarkommen, muß sich unterordnen
Wir brauchen unseren „Code“ zwar nicht extra zu verschlüsseln wie beim Computer, aber Hauptzweck ist und bleibt die effiziente Benutzung zwischen uns Deutschen. Ich koche ja auch nicht MEIN Essen permanent mit Sojasauce, bloß weil potentiell 1-2 Milliarden Asiaten bei mir zu Gast kommen könnten. Das wäre zuviel der Welt-Demokratie. Schließlich muß ICH es aufessen.
Sonst könnten wir gleich das Sauerkraut und Schwarzbrot abschaffen, was vielen Fremden eh nicht schmeckt. Oder wir verpflichten die Deutschen, Hundefleisch und Heuschrecken zu essen, damit sich asiatische oder afrikanische Besucher gleich wie zuhause fühlen…
Mal abgesehen davon, daß einerseits wegen der Aussprache viele internationale Wörter „eingedeutscht“ werden (Portmoneh oder so ähnlich), und andererseits für die internationalen Lerner alles einfacher werden soll……..
Sie werden verstehen, daß ich dem Ganzen mit leichtem Sarkasmus gegenüberstehe.
Englisch hat es geschafft, durch die fehlende Kodifizierung der Sprache und die deshalb möglichen automatischen Anpassungen eine weltweit gesprochene Sprache zu bleiben
Das verstehe *ich* nun nicht. Wo ist die Schreibung dem lebendigen Sprechwandel angepaßt worden? Oder die Aussprache paßt sich leicht den Zeiten und Menschen an, weil sie sowieso nix mit der Schreibung zu tun hat….
Englisch hat es geschafft…
mittlerweile Latein als franca lingua abzulösen
Alles wird Lingua Franca, wenn die kulturelle, meist leider politische Macht stimmt: Chronologisch war es schon das Griechisch (z.B. Neues Testament, kein Schreiber war Grieche), Latein, Plattdeutsch in der Hansezeit, Französisch, und jetzt halt Englisch wegen des alten Empire, das neue Muttersprachler produzierte und in den wirren Kolonialgrenzen neutrale (!) Verkehrssprachen erzwang.
Und während in Westeuropa viele kleine Nationalsprachen sich an ihren Staat klammern konnten, hat in Rußland das Russisch die vielen Sprachunterschiede zwischen Schwarzmeer und Ural plattgemacht, bzw ins Nichtschriftliche gedrängt. Weil eben Moskau regiert.
Ob eine Sprache „leicht“ ist oder nicht, wird von ihrer „Wichtigkeit“ übertönt. Wieviele Europäer lernen jetzt schon Chinesisch? Schon in meinem Bekanntenkreis gehts los…
Und wenn ich dann noch wahrnehme, wie viele Vor-Wende-Osteuropäer ein fließendes, geradezu akzentfreies Deutsch können, noch dazu obwohl sie womöglich kaum in Deutschland waren, sehe ich den Einfluß der politischen Macht, bei der Englisch eben nicht so angesagt war – und gleichzeitig ihre Machtlosigkeit, denn das Russisch haben alle gehaßt. Deutsch dagegen haben sie freiwillig gelernt.
Kurz und gut: Bei zeitlich und räumlich lebendigen Sprachen wird KEIN System als völlig logisch dastehen, ist jedwedes System IMMER irgendwie willkürlich. Aber an das jetzige sind wir wenigstens gewöhnt… 😉
Viele Grüße aus der Ferne
Stephan W. Schmidt-Marx
Sehr geehrter Herr SCHMIDT-MARX,
Ihre Zeilen, die deutlich machen, dass Sie sich sehr intensiv mit dem Problem beschäftigen, machen mich, der große Probleme sieht und dazu einen amateuerhaften Vorschlag unterbreitet hat, sehr nachdenklich.
Durch Ihre Zeilen wird mir klar, dass es offensichtlich eine Reihe ganz unterschiedlich Betroffener gibt:
(1) Bildungsbürgertum und ihr Nachwuchs (schrumpft masiv):
Wie wirken sich Reformen auf die Lernmöglichkeiten (Nachwuchs) und die Nutzbarkeit (Erwachsene) aus?
(2) Einwanderer und ihr Nachwuchs (wächst massiv, mein Anknüpfungspunkt):
Können Reformen die Lern- und Nutzungsmöglichkeit der Sprache so verbessern, dass es nicht zu dauerhafter (Pseudo)Zweisprachigkeit kommt (meine türkischstämmigen Studenten können weder deutsch noch türkisch; ihre Vettern von der Hauptschule in vielen Fällen können einfache Texte wohl lesen, aber nicht schreiben)?
(3) Bildungsferne Ansässige (wächst massiv?):
Können Reformen die Lern- und Nutzungsmöglichkeit der Sprache so verbessern, dass die Zahl der de facto Analphabeten nicht witer wächst (Hauptschule, z.T. Überlappung mit Drittgeneration der Einwanderer)?
Ihr Aspekt: Deutsch muss zuvörderst für Inländer gut sein, betrifft wohl alle drei Gruppen?
(4) Bildungsnahe Ausländer, die Deutsch lernen wollen, aber massive Schwierigkeiten haben.
Ihre Anmerkungen zu meinem, wie gesagt, amateuerhaften Vorschlag, sind sicher alle berechtigt, wie ich mich leider überzeugen musste.
Vielleicht könnte eine – meinee Erachtens dringend erforderliche – Reform der deutschen Sprache dann gelingen, wenn man die strikten Regeln der Schreibweise noch weiter lockert und die verbleibenden Regeln von eine Gruppe aus Fachleuten, z.B. Sie und von Problemsehern, z.B. ich gemeinsam fortlaufend angepasst werden.
Herzlichen Dank nochmals für Ihre vielen Anmerkungen. Falls Sie erlauben, werde ich diese als Link zu meinem Vorschlag setzen, gerne mit Ihrem Namen und Adresse.
Ihr L. JARASS
Sehr geehrter Herr Jarass,
Ihre Mail empfand ich als ausgesprochen gedankenanregend – Jetzt kommen wir von den Details der Rechtschreibung ans Eingemachte der Wechselwirkungen mit der Soziologie!
Ich stimme mit Ihnen sehr überein, die schleichende Analphabetisierung als ernstes Problem zu bewerten. Beim Weiterdenken der jetzigen Tendenz entpuppt sich das als ein so gigantisches Problem, daß es das ganze Zusammenleben in einen sozialen/wirtschaftlichen/kulturellen Kollaps befördern kann. Wenn immer weniger Leute lesen und schreiben können, ist irgendwann überhaupt Bildung unmöglich. Und während eine Elite dann immer noch Geräte fertigt, kann eine Masse die allenfalls treudoof benutzen und wird abhängig, und am Ende bleibt denen gar nichts anderes übrig als alles zu glauben, was man ihnen erzählt: Der Boden für eine Despotengesellschaft Orwellschen Ausmaßes…
So plakativ das klingt, so möglich ist es auch.
Aber gucken wir mal auf die Wechselwirkungen – und am besten nach möglichen Ursachen. Dann sind vielleicht die Gegenmittel leichter zur Hand.
Ich möchte folgendes festhalten:
A) Die soziologischen Veränderungen, die Sie nennen, sind zunächst mal eher unabhängig von der Rechtschreibung. Das evtl abnehmende Bildungsbürgertum verzichtet nicht auf Nachwuchs (oder auf Bildung) *wegen* der schwierigen Sprache. Ebenso sind die Einwanderer nicht wegen der schwierigen Rechtschreibung nach Deutschland gekommen, sondern *trotz* ihr. Daraus folgt, daß Sprachreformen zwar unterstützend oder hemmend wirken können, aber immer nur begleitend, ohne ganze Lösungen zu versprechen. Und wie Sie schon andeuteten, würde es nicht bei einer Reform bleiben können, sondern die Bemühungen endlos der Entwicklung hinterherlaufen.
B) Selbst Abiturienten können leider oft nicht richtig schreiben, lesen usw. Wäre zu fragen, warum sie trotzdem das Abitur bekommen. Das muß nicht arrogant von oben runter gesagt sein, sondern bedeutet ganz nüchtern: Wenn offenbar auch ohne diese Kenntnisse das Abitur verteilt wird, welchen Anreiz haben die jungen Leute, sich viel zu bemühen? Völlig gleich, aus welcher Bevölkerungsgruppe.
Hier ist meiner Ansicht nach ein Riesenproblem im Schulsystem. Lehrer, die schlechte Noten verteilen, kriegen Ärger von Eltern und Schulleitung. Bei Notenvergleichen zwischen Schulen – da gibt es einheitliche Tests – wird ein schlechtes Abschneiden der Schüler als Imageschaden für die Schule vermerkt, was wieder Ärger bedeutet, diesmal gleich öffentlich. Schlechte Noten bereiten außerdem den Lehrern extra Arbeit, weil zB Klausuren wiederholt werden müssen. Am Ende is eh der Lehrer schuld, er sei eben kein guter Pädagoge. Naja, da schmeißt man dann lieber ein paar gute Noten um sich, und alle landen bei Ihnen auf der Uni…
Ich will absichtlich drastisch formulieren, um die Sachen klarer herauszuarbeiten.
C) Übrigens siehts beim Rechnen und in anderen Fächern ja auch nicht besser aus. Ich hänge Ihnen mal eine Zitatesammlung aus Original-Bewerbungsgesprächen an die Mail dran. Mehr tragisch als komisch.
Wenn man den (durch was auch immer verursachten) Entwicklungen mit Reformen hinterherlaufen will, müßte man auch die andern Sachen alle vereinfachen: Nicht mehr so starr 1+1=2, sondern auch 1+1=3 erlauben, eben nicht alles so eng sehen. Außerdem sollte man die Erdbeschleunigung von 9,81 auf 10 runden, weil sich das dann besser rechnen läßt.
Oder anders gefragt: Wenn Leute durch die Führerscheinprüfung durchfallen, reduziert man dann die Anforderungen?
Vieles wird einem heute eh schon durch Technik abgenommen: Das geschickte Bremsen durch ABS (Bsp. Auto), schon in der Schule gibts Taschenrechner (Bsp Rechnen), oder Rechtschreibprüfung am PC. Dann wenigstens einen verbleibenden Rest selbst zu lernen, sollte eigentlich machbar sein. Aber womöglich ist gerade DAS ein Teil des Problems: Daß den Leuten schlicht die Übung fehlt!
Vgl Punkt B, daß der Anreiz fehlt. Und letztlich: Wenn das Problem so fächerübergreifend ist, kann es nicht durch eine Sprachreform gelöst werden. Womöglich nicht einmal gemildert.
D) Es ist beeindruckend, welchen Bildungshunger junge Leute in Entwicklungsländern haben! Tragisch nur, daß dort an qualifizierten Lehrern Mangel herrscht. Im satten Deutschland gibt es dagegen eine Schulkultur, wo der Lehrer bitteschön Entertainer sein soll, der Lehrer ist verantwortlich, die Schüler zu motivieren, und wenn die Schüler einfach nicht wollen… na ja, es ist ja eine freie Gesellschaft. Zum Teil stehen Schüler dabei wohl unter sozialem Druck, bloß nicht (sichtbar) zu gut zu werden, um mehr oder weniger harschem Mobbing zu entgehen. Zum anderen Teil spiegelt sich, welchen geringen Wert Bildung im manchem Elternhaus hat.
Möglich, daß hier Einwandererfamilien verstärkt zu nennen sind – nicht einfach weil sie eingewandert sind, sondern weil eben gerade die bildungsferneren Schichten nach Deutschland gekommen sind, denen es schon im Ursprungsland schwer fiel.
E) Wenn es stimmt, wie Sie sagen, daß Hauptschüler immerhin einfache Texte lesen können, und Abiturienten dann hoffentlich erst recht, dann steht ihnen immerhin die Tür zur Bildung einen guten Spalt offen: Wer wirklich will, kann sich bei Leihbibliotheken kostenlos dermaßen viel Bildung aneignen, daß er die Tür damit selber aufstoßen kann. Und durch bloße Gewöhnung evtl. sogar die Rechtschreibung beherrschen kann. Aber die spielt in diesem Zusammenhang eigentlich nur eine Nebenrolle.
F) Die sprachlichen Fähigkeiten, anfangend mit dem Wortschatz, werden erwiesenermaßen dadurch gestärkt, daß – ganz schlicht – mit den Kindern gesprochen wird. Natürlich kann Deutsch schwerer nahegebracht werden, wenn die Familiensprache eine andere ist, dann wird eben wenigstens die andere Seite der Zweisprachigkeit gestärkt. Das erhöht womöglich die ganze Denkfähigkeit und Sozialkompetenz. Denn eine Gesprächskultur bringt nicht nur Sprache mit sich, sondern auch Inhalte und Umgang miteinander. Wie oft werden Kinder vor dem Fernseher geparkt! Und wieviel Zeit (und Geld) verbringen sie dann irgendwann freiwillig mit Computerspielen! PCs können praktisch sein, und auch Fernsehen kann sogar zur Bildung beitragen (und dann sogar ganz ohne Schreibkenntnisse für jeden zugänglich!) – aber Sie kennen ja sicher die Praxis.
G) Es ist als altmodisch verpönt, etwas gegen das Fernsehen zu sagen. Aber solche Rundum-Berieselung bedeutet – außer daß Sprache wenig aktiv benutzt wird – insgesamt eine Reizüberflutung, die das Konzentrationsvermögen schwächt.
(Ich merke das persönlich, von morgens bis abends im Büro beschallt zu werden, sogar mittags im Restaurant und abends im Supermarkt, z.T. auch im Bus durch die Ohrstöpsel des Nachbarn: de facto keine ruhige Minute. Außer auf dem Klo und im Fahrstuhl – aber auch da habe ich schon bei beiden akustisch verschmutzte erlebt.)
H) Mal eine Kleinigkeit: Prägt sich Rechtschreibung nicht am besten durchs Schreiben ein? Durchs Selberschreiben? Vielleicht übt nun mal das Tippen am PC weniger als das Mit-der-Hand-Schreiben.
Ich sage nicht, daß alle Errungenschaften der Zeit zurückgedreht werden müssen – fände es sogar eher gut, wenn gleich in der Schule das 10-Finger-System gelehrt würde! – aber bin eben auf der Suche nach möglichen Ursachen.
Insgesamt sind da gesellschaftliche Herkulesaufgaben zu bewältigen, bei denen ich eine Rechtschreibreform eher für hinderlich halte, weil sie vom Eigentlichen ablenken würde.
** Mängel im Schulsystem – von der Finanzausstattung über die Praxis der Schulvergleiche anhand „guter“ Noten bis zum Gegeneinander-Ausspielen von Schulleitung, Lehrern, Eltern.
** Mängel in Unis – z.B. Finanzausstattung: Alle wissen, daß die Unis mehr als doppelt so viele Studenten „durchschleusen“ sollen als wofür sie ausgestattet sind. Ich erinnere mich an eine Klausur, die ich auf dem Fußboden im Straßendreck sitzend schreiben sollte (steigert vielleicht die Konzentration?), wobei ich nach einer Weile einen abgebrochenen Sitz fand, ihn auf den Mülleimer querlegte und, darauf sitzend, mein Papier also doch noch auf die Knie legen konnte! Die auf dem Boden Gebliebenen beneideten mich! Und für diesen Jammerservice soll man dann noch teuer bezahlen! Es ist eine Beleidigung, wie verächtlich der Staat mit jungen Leuten und mit dem hohen Gut der Bildung umgeht!
** Gleichzeitig in den Familien, in der ganzen Gesellschaft: Wie wichtig ist uns allen Bildung? Wollen wir eine reine Konsum- und Spaßgesellschaft bleiben/werden? Wollen wir die Marktwirtschaft so vergöttern, daß man entweder Ellenbogenmentalität lernt oder in den frustrierten Rest gedrängt wird?
Der vom Staat forcierte Wettbewerb sieht so aus, daß aus Voll-Unis amputierte Unis werden, wo ganze Fakultäten dichtgemacht werden, was man dann schönfärberisch als „spezialisiert“ bezeichnet. Der Wettbewerb im Arbeitsmarkt sieht so aus, daß auch gut Qualifizierte keine Arbeit finden, weil sie entweder hohnlachend als „überqualifiziert“ gelten oder weil 1 Arbeitsplatz eben nicht für 2 gute Leute reicht. Was beides den Anreiz für Bildung nicht gerade erhöht. Wie ist das eigentlich mit Teilzeit? Wer Arbeit hat, rackert sich tot und wird gezwungen, die Kinder vor den Fernseher zu setzen, s.o.. Und bei den Einkommen sind immer öfter 2 Verdiener nötig (2 VOLLzeitverdiener), um überhaupt über die Runden zu kommen. Bei den Rahmenbedingungen braucht ein junger Mensch schon einen starken Willen und viel Selbstdisziplin, um alleingelassen sich weiterzubringen!
Es ist so Fundamentales faul im Staate Deutschland, daß wir leider wirklich mehr und Wichtigeres zu tun haben, als ausgerechnet die Rechtschreibung zu reformieren.
Die Wirtschaftsmisere ist sagenhaft fest an die soziale gekoppelt. Der Staat erwartet immer noch endloses Wachstum (in einer endlichen Welt mit endlichen Ressourcen) als Wundermittel gegen Arbeitslosigkeit, und statt die Lohnnebenkosten zu senken ist er im Unternehmenssteuersenkungswettbewerb… jetzt komme ich auf ein Feld, wo Sie sich deutlich besser auskennen als ich.
Bei alldem:
** Stimmungen färben die Tatsachen. Die genannten Umständen verursachen bei vielen Frustration, die dann weiter nach unten zieht. Da hilft dann eine Sprachreform auch nicht mehr. Oder wieviel Energie würde eine allgemeine Aufbruchstimmung freisetzen, wo jeder einzelne sich wieder einbringt, weil es aussichtsreich ist!
Für mich gelten zwei Sätze, die von Prof.M.Succow stammen (Träger des „Alternativen Nobelpreises“, Greifwald) und in ihrer Schlichtheit so nahegehen:
Ein frustrierter Mensch ist ein verlorener Mensch.
Wir müssen etwas tun!
Ich möchte Sie auch auf den anderen Link in meiner Fußzeilensignatur noch ausdrücklich verweisen, der einige sehr interessante Argumente bringt und – das beste – eine interessante Idee zur möglichen Lösung! Eine Artikel-Übersicht auch unter http://www.sfv.de/sachgeb/Energie4.htm