ARD PlusMinus, Di, 11. Mai 2010
Rückschau: Stromnetz, Engpässe, von Michael Houben
(© WDR) Weil an Nord- und Ostsee die Windkraft immer weiter ausgebaut wird und heute schon mehr Strom erzeugt als im Norden gebraucht wird, hat die Bundesregierung beschlossen, dass die Stromnetze ausgebaut werden müssen – bundesweit. Betroffene Anwohner müssen dafür elektromagnetische Strahlung verkraften, die im Extremfall bis zu 250-mal höher ist, als in anderen europäischen Ländern erlaubt. Ein Opfer für die saubere Windkraft?
Im August 2009 beschloss die damalige Große Koalition das Energieleitungsausbaugesetz. Damit wurde die Notwendigkeit von weit über tausend Kilometern neuer Hochspannungsleitungen gesetzlich festgezurrt und das Recht betroffener Anwohner gegen einen Neubau zu klagen gesetzlich beschnitten. Trotzdem regt sich Widerstand. Bürger versuchen, die neuen Leitungen, die teilweise direkt über ihren Häusern verlaufen sollen, zu verhindern. Sie haben Angst – und das nicht ganz ohne Grund.
Grenzwerte und Risiken
Eine im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz erstellte Auswertung sieht ein „erhöhtes Risiko für Alzheimer bei Personen, die in einer Entfernung von weniger als 50 Metern zu einer Hochspannungsleitung wohnen.“ Eine weitere Studie untersuchte Dutzende weltweit vorhandene Forschungsarbeiten und kommt zu folgendem Fazit: „Internationale epidemiologische Studien zu Leukämien im Kindesalter zeigen eine statistisch auffällige Häufung bei Magnetfeldern oberhalb 0,4 Mikrotesla.“ Doch bis heute ist nicht bekannt, durch welche biologische Wirkung diese Krankheiten entstehen. Rein wissenschaftlich gesehen, bleibt es daher bei einem Verdacht. Die schweizer Behörden nehmen den Verdacht ernst. Neue Leitungen dürfen nur gebaut werden, wenn Anwohner dadurch mit maximal 1 Mikrotesla belastet werden. In Holland dürfen Leitungen nur dann gebaut werden, wenn Häuser, in denen sich Kinder aufhalten, mit maximal 0,4 Mikrotesla belastet werden. In Deutschland sind noch immer Belastungen bis zu 100 Mikrotesla erlaubt.
Erdkabel oder Freileitung?
Weil an vielen Orten die Bevölkerung gegen neue Leitungen protestierte, wurde in Niedersachsen schon vor Jahren ein Gesetz erlassen, dass neue Leitungen in bewohnten Gebieten unter die Erde zu legen sind. Die Belastung durch elektromagnetische Felder sinkt dadurch deutlich. Doch das Energieleitungsausbaugesetz schreibt ausdrücklich vor, dass nur vier neue Leitungsabschnitte als Pilotprojekt unter die Erde gelegt werden dürfen, drei davon liegen in Niedersachsen. Für alle anderen Leitungen dürfen sich die Netzbetreiber die Mehrkosten nicht erstatten lassen. Wie hoch die Mehrkosten ausfallen, ist ohnehin umstritten. Schätzungen liegen zwischen doppelten und bis zu zehnfachen Kosten. An den Strompreisen für Endkunden hat der Ferntransport über Hochspannungsnetze allerdings nur einen verschwindend geringen Anteil. Selbst wenn alle neuen Fernleitungen unter die Erde müssten, würde der Strompreis um weniger als ein Prozent steigen. Doch der Gesetzgeber war eindeutig: Vier Pilotprojekte sind erlaubt. Alle anderen Leitungen müssen oberirdisch entstehen – zur Not auch direkt über bewohnten Häusern.
Neue Leitungen für die Windkraft?
Allerdings bezweifelt manch ein Experte, dass für die Windkraft wirklich neue Leitungen benötigt werden. Einer von ihnen ist Prof. Lorenz Jarrass, der mit Buch „Windenergie“ das wissenschaftliche Standardwerk zu diesem Thema verfasst hat. Er kommt zu dem Fazit, dass allenfalls einige wenige Lückenschlüsse im Stromnetz nötig sind. Die große Mehrzahl der aktuellen Projekte werde nur deshalb benötigt, weil die großen Kohlekraftwerke auch dann betrieben werden sollen, wenn bei starkem Wind die Windkraft eigentlich ausreichen würde, um den größten Teil Deutschlands mit Strom zu versorgen.
Dass dies plausibel ist, zeigt die längste der geplanten Leitungen: Sie führt parallel zu einer bereits bestehenden Leitung von Norddeutschland durch das Ruhrgebiet mit seinen Steinkohlekraftwerken und das rheinische Braunkohlerevier bis östlich von Koblenz. Wenn kein Wind weht, transportiert die bestehende Leitung den Strom von den Kohlekraftwerken nach Norden und Süden. In Starkwindphasen könnte der Windstrom den Kohlestrom ersetzen, genügend Leitungskapazitäten wären vorhanden. Nur wenn die Kohlekraftwerke auch in einer solchen Phase weiterlaufen sollen, macht eine zweite Leitung Sinn.
Tatsächlich hat der Energiekonzern RWE im rheinischen Braunkohlerevier in den vergangenen Jahren neue Kraftwerke in Betrieb genommen. Weitere sind in Bau, ebenso wie im Ruhrgebiet. Der Sprecher der für den Netzbetrieb zuständigen RWE-Tochter Amprion verweist zwar darauf, dass es auch heute schon südlich der Braunkohlekraftwerke einen Engpass gebe, bestätigt aber ausdrücklich, dass die neuen Leitungen nicht nur der Windkraft dienen sollen. „Die zweite Herausforderung ist die Integration von neuen konventionellen Kraftwerken, die vor allem im Ruhrgebiet gebaut werden. Von diesen Kraftwerken müssen wir den Strom abtransportieren und dafür neue Leitungen bauen.“ Und dabei kann sich Amprion ausdrücklich auf die Gesetzeslage berufen.
Alternative Gleichstrom
Professor Jarrass verweist darauf, dass die klimapolitischen Versprechungen der Bundesregierung, durch Windkraft den Kohlendioxidausstoß zu senken, nicht greifen, wenn selbst an Tagen mit starkem Wind die Kohlekraftwerke nicht entsprechend heruntergefahren werden. Doch er hält den Ausbau der Leitungen auch wirtschaftlich für einen Fehler: „Wenn wir jetzt die ganzen im Energieleitungsausbaugesetz vorgesehenen Planungen realisieren, besteht das große Risiko, dass wir in beträchtlichem Umfang Fehlinvestitionen vornehmen. Diese Fehlinvestitionen muss der deutsche Stromverbraucher bezahlen mit überhöhten Strompreisen.“
Tatsächlich: Die neuen Offshore-Windparks, mit denen der Anteil der Windenergie gesteigert werden soll, liefern den erzeugten Strom an der Küste nicht als Wechsel-, sondern als Gleichstrom ab. Aus gutem Grund: Der Gleichstromtransport funktioniert – anders als klassischer Hochspannungswechselstrom – praktisch ohne Verluste. Erst an der Küste wird der Gleichstrom dann in speziellen Umspannwerken in Wechselstrom umgewandelt und soll dann mit erheblichen Verlusten über das klassische Stromnetz in den Süden transportiert werden. Laut Professor Jarass ist das wirtschaftlich unsinnig: „Den Windstrom von der Nordseeküste sollten wir über übergelagerte Netze von der Nordseeküste direkt per Gleichstrom in die Alpen und nach Süddeutschland transportieren.“
Der Vorteil liegt nicht nur in geringeren Verlusten: Gleichstrom erzeugt auch keine potenziell gesundheitsgefährdenden elektromagnetischen Felder. Außerdem lassen sich Gleichstromkabel viel einfacher unterirdisch verlegen als Wechselstromleitungen. Die Gleichstromtechnik ist noch neu und wird bislang vor allem für lange Unterseekabel genutzt. Allerdings sind insbesondere in China bereits Tausende Kilometer dieser neuen Fernleitungen in Betrieb. Auch wenn in Zukunft mit dem Projekt „Desertec“ Solarstrom aus der Sahara nach Europa kommen soll, wird dies mit Gleichstrom geschehen.
Der Bau eines derartigen Gleichstromnetzes zwischen Nord- und Süddeutschland würde sicher einige Jahre länger dauern als der momentan geplante Ausbau des althergebrachten Wechselspannungsnetzes. In der Übergangsphase müssten die Betreiber konventioneller Kraftwerke an Tagen mit starkem Wind ihre Anlagen herunterfahren, um in den vorhandenen Leitungen Platz für den Windstrom zu machen. Auf lange Sicht aber wäre der europaweite Transport von Gleichstrom die eindeutig preiswertere Alternative.
Übrigens können Neonröhren auch ohne Stromzufuhr leuchten – allein durch das elektrische Feld einer Hochspannungsleitung. Allerdings funktioniert das nur unter Höchstspannungsleitungen mit einer Spannung von 380 Kilovolt. Der Effekt funktioniert umso besser, je tiefer die Leitungen hängen.