Süddeutsche Zeitung, 05.12.2012, Beilage Energie, V2/2, J. Göres

 

Die geplanten Trassen rufen bei der Bevölkerung Widerstand hervor. Einige
Wissenschaftler halten die Trassen für überdimensioniert.

In den kommenden zehn Jahren sollen in Deutschland 2800 Kilometer neue
Stromleitungen gebaut und 2900 Kilometer alte Leitungen modernisiert werden.
Das sieht der gerade von der Bundesnetzagentur vorgestellte
Bundesbedarfsplan vor. Der Ausbau soll dafür sorgen, dass genügend
Windenergie von Nord nach Süd transportiert und so der wegfallende Atomstrom
– 2022 soll das letzte Kraftwerk vom Netz gehen – ersetzt werden kann. Der
Bundesbedarfsplan ist Grundlage für ein neues Gesetz, das die
Planungsverfahren für neue Trassen abkürzen soll. Laut Wirtschaftsminister
Philipp Rösler (FDP) könnte das Genehmigungsverfahren von zehn auf vier
Jahre verkürzt werden, indem etwa der Rechtsweg auf eine Instanz beschränkt
wird. Hintergrund ist der Widerstand gegen neue Trassen.

So zum Beispiel in den niedersächsischen Landkreisen Peine und Hildesheim,
wo eine neue 380-Kilovolt-Leitung zwischen dem Umspannwerk Wahle bei
Braunschweig und der Umspannanlage im nordhessischen Mecklar (Landkreis
Hersfeld-Rotenburg) verlaufen soll. Diese 230 Kilometer lange Leitung gehört
zu den 24 Vorhaben, die 2009 im Gesetz zum Ausbau  von Energieleitungen
festgelegt wurden.

Weshalb die Anwohner die Trassen ablehnen, das wurde kürzlich bei einer
Informationsveranstaltung in Vechelde (Landkreis Peine) deutlich. Behörden
und der Stromnetzbetreiber TenneT warben dort  für die neue Trasse, die nach
der Untersuchung von fünf möglichen Korridoren im  Raumordnungsverfahren
ausgewählt wurde. Die Kritik bringt der Landwirt Rainer Leuwer aus Liedingen
auf den Punkt: „Wir  erhalten eine kleine einmalige Abfindung  dafür, dass
auf unser Land ein 60 Meter hoher Stahlmast gesetzt wird und müssen dann mit
dem Trecker immer um das  Scheißding drum rumfahren, während die  großen
Stromkonzerne jeden Tag daran verdienen. So geht das nicht, eine regelmäßige
Abgabe ist zeitgemäß.“

Es geht ums Geld, und da fühlen sich gerade Bauern ungerecht behandelt. „Für
ein Windrad auf dem Acker gibt es jedes Jahr bis zu 45 000 Euro, für einen
Strommast einmalig 3000 bis 4000 Euro“, sagt Guido Franke, Sprecher der
Bürgerinitiative Südkreis gegen Megamasten.

Die Trassengegner fordern, die Stromleitungen  unterirdisch zu verlegen.

Im Landkreis Hildesheim hatte die Initiative vor fünf Jahren 40 000
Unterschriften gesammelt, damit die Leitung unterirdisch verlegt wird, auch
wegen der Angst vor möglichen gesundheitlichen Schäden durch magnetische und
elektrische Strahlung und wegen des Wertverlusts der ImmobiIien.

Bisher ist nur dort eine Erdverkabelung, wo die Trasse in einer Entfernung
von weniger als 400 Metern an Siedlungen  vorbeiführt – dies betrifft eine
sieben Kilometer lange Strecke in Göttingen. Unterirdische Stromkabel sind
wesentlich teurer  und weniger leistungsfähig als die Freileitungen, für die
alle 300 bis 450 Meter ein  Mast aufgestellt werden muss. „Wir werden 2013
zu Beginn des Planfeststellungsverfahrens für die stärkere Erdverkabelung
kämpfen“, kündigt Franke an.

Auch die Einwohner von Westerlinde sind aufgebracht. „Würden Sie hier leben
wollen?, fragen sie die Planer von TenneT bei der Veranstaltung. Der Ort
wäre durch die Masten und die Autobahn künftig von drei Seiten eingekreist.
Durch die 50 bis 70 Meter breite Stromtrasse würden Ortsteile voneinander
abgetrennt. „Die Streckenvariante ist noch nicht bis ins Detail festgelegt,
eine Optimierung ist noch möglich. Dafür suchen wir ja den Dialog mit den
Bürgern“, sagt Martin Groll, Referent für Energiepolitik bei TenneT.

Kann der niederländische Konzern überhaupt genügend Geld für das Projekt
aufbringen, wo er doch eingestehen musste, dass er derzeit nicht die
finanziellen Mittelhat, um alle Auflagen für die Netzanbindung der
Offshore-Windparks zu er- füllen? Groll sagt: „Die Finanzierung für den Bau
der Stromtrasse Wahle-Mecklar ist gesichert.“   

Die Einwände von Lorenz Jarass, Professor für Wirtschaftswissenschaften an
der Hochschule RheinMain in Wiesbaden, fallen grundsätzlicher aus als die
der Anwohner. Er hat zusammen mit seinem Kollegen Gustav Obermair in dem
kürzlich veröffentlichten Buch „Welchen Netzumbau erfordert die
Energiewende?“ den geplanten Neubau von Stromtrassen als überdimensioniert
und viel zu teuer kritisiert.  

Den Professor beruhigt es auch nicht, dass die Bundesnetzagentur im
Bundesbedarfsplan das Stromnetz nicht so stark ausbauen will wie von den
vier Netzbetreibern TenneT, Amprion, TransnetBW und 50Hertz vorgeschlagen.
Diese hatten Trassen von Emden über das Ruhrgebiet nach Philippsburg bei
Speyer, von Brunsbüttel in Richtung Stuttgart, von Wilster bei Stade nach
Grafenrheinfeld bei Schweinfurt sowie von Wehrendorf bei Osnabrück nach
Hessen und von Kaltenkirchen bei Hamburg nach Baden-Württemberg geplant. Die
beiden letzteren Leitungen mit einer Gesamtlänge von circa 1000 Kilometern
sollen zunächst nicht gebaut werden. „Aber das kann noch kommen, denn der
vermeintliche Bedarf wird künftig jedes Jahr überprüft“, sagt Jarass.

Nach seiner Einschätzung könnten viele Leitungen und damit auch Kosten
überflüssig werden, wenn auf ein halbes Prozent der jährlich anfallenden
Windenergie, die bei Starkwind entsteht, einfach verzichtet würde. Jarass
favorisiert einen Netzumbau, der auf die Verstärkung bestehender Leitungen
setzt. Damit wäre weit weniger Leitungsneubau nötig.

Der großflächige Ausbau der Stromtrassen in der jetzigen Form schadet seiner
Meinung der Energiewende. „Es geht bei den jetzigen Plänen nicht primär
darum, den Wind von Nord nach Süd weiterzuleiten, sondern bei hohem
Windanfall die Kohlekraftwerke nicht vom Netz nehmen zu müssen. Der in
Deutschland dann nicht benötigte Strom aus den Kohlekraftwerken soll ins
Ausland verkauft werden. Dafür brauchen wir so viele neue Leitungen.“   

Jarass fordert, das Energiewirtschaftsgesetz so zu ändern, dass die
Betreiber von Kohlekraftwerken nicht mit Schadensersatzansprüchen drohen
können, wenn der von ihnen erzeugte Strom nicht abgenommen wird. Ansonsten
werde der Stromkunde die Kosten für den Ausbau der Stromtrassen in Höhe von
derzeit geschätzten 20 Milliarden Euro tragen müssen.